Die DDR hat’s nie gegeben, 2021
„Das Land, in dem ich geboren wurde, existiert nicht mehr und dennoch ist meine Identität eng mit ihm verbunden.“
Was bedeutet der Verlust von Heimat? Welche Folgen hat die Auflösung eines Staates für die Gesellschaft, welche für die eigene Identität? Verändert sich Erinnerung im Laufe der Zeit und welchen Einfluss hat dies auf unser gegenwärtiges Handeln?
Anne Arndt, geboren in Schwerin, gehört zur Dritten und somit letzten Generation Ost. Die Preisträgerin des diesjährigen KHM-Förderpreises für Künstlerinnen setzt sich in ihrer Installation Die DDR hat’s nie gegeben kritisch mit dem Erbe der DDR auseinander. Am Beispiel einer ehemaligen Bunkeranlage an der Ostsee, die zu DDR-Zeiten als militärische Überwachungsanlage genutzt wurde und heute Teil eines beliebten Touristenortes ist, hinterfragt Anne Arndt unseren öffentlichen Lebensraum als Spiegel gesellschaftlicher Macht- und Erinnerungsstrukturen. Die durch Stranderosion allmählich in der Ostsee versinkende Bunkeranlage dient dabei als Metapher für den Umgang mit der Geschichte und dem Erbe der DDR.
Die DDR hat’s nie gegeben – der Titel der Arbeit bezieht sich auf ein bekanntes Graffiti, das sich an den Fundamentresten des nach der Wende abgerissenen Palast der Republik in Berlin befand. Einst Sitz der Volkskammer und Wahrzeichen der DDR, stellt der Ort bis heute durch den jüngst vollzogenen Wiederaufbau des ehemaligen Berliner Stadtschlosses sowie den Einzug des Humboldt Forums ein topografisches Sinnbild zweier konträrer Staatsformen dar.
Anhand von Zeitzeugeninterviews, dokumentarischem Material aus privaten Archiven, Stasiakten über Fluchtversuche sowie Video- und Fotomaterial des heutigen ruinösen Zustandes vor Ort zeichnet Anne Arndt in ihrer Arbeit ein vielschichtiges Psychogramm der Landschaft und ihrer Gesellschaft, das sich zwischen verklärender Erinnerung, bewusster Verdrängung und kritischer Distanzierung bewegt. Unweigerlich stellen sich Bezüge zur Gegenwart her – History repeats itself, Geschichte wiederholt sich. Sind wir heute, sechzig Jahre nach dem Mauerbau, wirklich eine vereinte Gesellschaft? Ist die Grenze zwischen Ost und West tatsächlich überwunden oder hat nur eine Verlagerung von einer topographischen in eine mentale Ebene stattgefunden? Wie gehen wir aktuell mit Themen wie Grenzen, Flucht, Heimats- und Identitätsverlust um? – Dr. Thekla Zell
“The country I was born in no longer exists and still my identity is closely connected to it.”
What does the loss of homeland mean? What consequences does the dissolution of a state have for society, what for one’s own identity? Does memory change over time and what influence does this have on our present actions?
Anne Arndt, born in Schwerin, belongs to the Third and thus Last Generation East. In her installation Die DDR hat’s nie gegeben (The GDR never existed), the winner of this year’s KHM Promotion Prize for female Artists takes a critical look at the legacy of the GDR. Using the example of a former bunker system on the Baltic Sea, which was used as a military surveillance facility in GDR times and is now part of a popular tourist resort, Anne Arndt questions our public living space as a mirror of social power and memory structures. The bunkers, which are gradually sinking into the Baltic Sea due to beach erosion, serve as a metaphor for dealing with the history and legacy of the GDR.
The GDR never existed – the title of the work refers to a well-known graffiti that was found on the remains of the foundations of the Palace of the Republic in Berlin, which was demolished after reunification. Once the seat of the People’s Chamber and a landmark of the GDR, the site is still a topographical symbol of two contrasting forms of government today due to the recent reconstruction of the former Berlin City Palace and the arrival of the Humboldt Forum.
Using interviews with contemporary witnesses, documentary material from private archives, Stasi files on escape attempts as well as video and photographic material of today’s ruinous state on-site, Anne Arndt draws a multi-layered psychogram of the landscape and its society in her work, which moves between transfiguring memory, conscious repression and critical distancing. Inevitably, references are made to the present – history repeats itself. Are we really a united society today, sixty years after the Wall was built? Has the border between East and West really been overcome or has there only been a shift from a topographical to a mental level? How do we currently deal with issues such as borders, flight, loss of home and identity?
Drei schwarz-rot-goldene Fahnen wehen vor der Kunsthochschule für Medien am Filzengraben. Bei genauerer Betrachtung sind Hammer und Zirkel, die Insignien der ehemaligen DDR, auf ihnen zu erkennen. Ginge es nach Anne Arndt, die auf dem diesjährigen Rundgang an der KHM ihre Diplomarbeit vorstellt, würden die Fahnen auf Halbmast hängen. Nicht weil die aus Schwerin stammende Künstlerin der DDR nachtrauern würde, sondern weil sie der Opfer des ostdeutschen Regimes gedenken möchte. Da die DDR jedoch offiziell nicht als Unrechtsstaat ausgewiesen ist, dürfen die Fahnen nicht auf Halbmast gehisst werden. Anne Arndt trifft offenbar einen politischen Nerv mit ihrer Arbeit „Die DDR hat’s nicht gegeben“. So entdeckte sie in der Ostsee bei ihren Recherchen etwa eine Bunkerlinie, die sich als eine Art Ostseewall entpuppte. Von hier fing die NVA Flüchtende ab, die das Ufer von Fehmarn erreichen wollten. Dinge, über die man heute nicht gerne spricht, wie Anne Arndt meint. Damit das anders wird, hat sie den bunten Postkarten vom Badestrand der Ostsee eigene, schwarz-weiße Versionen der Grenzanlagen gegenübergestellt. Eine komplexe, faszinierend genau recherchierte Arbeit in gleich mehreren Medien ist ihr gelungen. Dass der Blick in die Vergangenheit mitunter auf direktem Wege in die Gegenwart führt, demonstrieren etliche Arbeiten der Corona-Studiengänge im Rahmen der Ausstellung „Open 2021“. – Thomas Linden, KR Kultur
Es gibt dieses Jahr zwei Wege in den Rundgang der Kölner Kunsthochschule für Medien. Der eine führt über ein Land, das es nie gab (die „DDR“), der andere in eine Kiste (..) Den anderen Weg in den KHM-Rundgang hat Anne Arndt entworfen. Sie gehört wie Dreier zu den aktuellen Diplomanden der Kölner Kunsthochschule und behauptet in ihrer Abschlussarbeit, dass es die DDR nie gegeben hat. Die geborene Schwerinerin meint das allerdings nicht wörtlich, sondern im dem Sinne, dass unser Bild der DDR ausbleicht und die Erinnerung an sie verschwindet. Ein Symbol dafür findet sie in ehemaligen Bunkeranlagen an der Ostsee, die„Republikflüchtlinge“ aufhalten sollten und heute durch natürliche Stranderosion wie kleine Inseln vor der Küste liegen. Arndt hat mehrere Videos dieser abtreibenden Schollen gedreht, etliche anti-touristische Ansichtskarten entworfen, eine Liste mit Fluchtopfern erstellt und Sand in Tüten ausgelegt. So will sie die Erinnerung wachhalten, während sie die DDR ironisch ins Reich der kapitalistischen Märchen verlegt. Vor dem Haus sollten drei DDRFahnen auf halbmast wehen, doch das wurde der Künstlerin verboten. Jetzt stehen Hammer und Sichel so stolz im Wind, wie es sich für einen Arbeiter- und Bauernstaat gehört. – Michael Kohler, KSTA Kultur